Leben und Werk von Nikolaus Reinartz,
Pfarrer und Heimatforscher - Ein Projekt von Nikola-reinartz.de und Nikolaus-reinartz.de





Servatius Hyrt
Pastor in Schleiden 1533–1569
Eine reformationsgeschichtliche Studie Volksblatt=Verlag, Euskirchen

Von N. Reinartz

I.

Eine bereits ein Jahrhundert alte Streitfrage ist die Stellungnahme des Steinfelder Konventualen und späteren Schleidener Pfarrers Servatius Hyrt, der 36 Jahre lang unter drei Grafen, Dietrich IV., Dietrich V., Dietrich VI. die dortige Pfarre bedient hat, zu dem von dem letzten, in Blindheit verstorbenen, Manderscheider Grafen eingeführten Protestantismus. War Hyrt der letzte katholische Pfarrer der Zeit oder der erste lutherische Pfarrer, eine Frage, die letzten Endes in die andere ausmündet: War wirklich der Steinfelder Prämonstratenser der „geistliche Vater“ der lutherischen Stadtpfarre, – der einzigen der durch kirchliche Machtpolitik Dietrichs im weiten Eifelgebiet eingerichteten protestantischen Pfarreien, die diesen ihren tatsächlichen Begründer überlebt hat? 1) Die Beantwortung ist naturgemäß für die Beurteilung der Kräfte, welche den Großteil der Schleidener Bevölkerung 2) damals in die Glaubensneuerung hineingetrieben haben, von erheblicher Bedeutung. Der letzte, der sich mit dieser Frage befaßt hat, ist der jetzige evangelische Pfarrer von Schleiden, Dr. Siebel, in seiner Geschichte der evangelischen Gemeinde daselbst. Er möchte auch in Hyrt den stillen Wegbereiter der neuen Lehre sehen, der wohl den letzten Schritt des Bruches mit seinen Ordensbrüdern und der Kirche noch nicht getan habe. Warum er ihn denn nicht getan hat? Dr. Siebel schreibt: „Angst vor der politischen Gewalt brauchte Hyrt nicht zu haben, denn sein Landesherr führte ja gerade mit längst gehegter Absicht die Reformation ein um 1559 (so!?), zehn Jahre vor Hyrts Tode“. Ja, der evangelische Pfarrer wirft freimütig die Frage auf: „Oder sollte gar die politische Macht des Grafen ihm einen sanften Wink in der gewünschten Richtung gegeben haben, um seine Gedanken und Taten etwas schneller voran zu treiben“? Ich glaube den dokumentarischen Nachweis erbringen zu können, daß es dieser Macht nicht gelungen ist, trotzdem sie dem altersschwachen Pfarrer nach üblichem reformatorischen Brauch 3) einen lutherischen Prädikanten zur Seite gegeben hat, ihn selber auch zum Abfall zu bringen, pflichtete aber Dr. Siebel, vollständig bei, wenn er von Servatius Hyrt schreibt: „Eine Kämpfernatur mit lautem Feldgeschrei war dieser erasmianische Gelehrte nicht“.


Volksblatt Verlag Euskirchen,
21 Seiten, Ohne Jahresangabe

Groß war darum die Verwunderung in geschichtskundigen Kreisen des Tales, als zur gleichen Zeit, da Dr. Siebels Buch erschien, am 3. Dez. 1936 in dem Feuilleton eines Schleidener Blattes ein ganz anderes Bild von Hyrt gezeichnet wurde, „von dem das Wort ging, daß er nit nur mit dem Maule streiten könne, sondern auch das Schwert aus Eisen wohl zu führen verstehe“. Der ungenannte Verfasser weiß angeblich nach alten Eifeler Gerichtsakten von einem Propagandazug des „abgefallenen Mönches“ ins Städtchen Monschau zu erzählen, wo „eingefleischte Römer“ saßen, mit deren “Voreingenommbenheit“ er gründlich aufräumen wollte; nennt auch den Tag, an dem derselbe mit fünf Lanzenknechten, die ihm Dietrich V. zum Schutze mitgegeben hätte, von Schleiden auszog: es wäre der 30. Juli 1555 gewesen. Auf der „Rurbröken“ sei ihm der Kaplan von Monschaus Berg (so! – muß heißen: Burg) Grellspieß (?) der aus dem Mechernicher Land stammte (?), entgegengetreten und habe ihn aufgefordert, Rede und Antwort zu stehen. „Und es hub zwischen Hyrten und Grellspießen ein Getechtel an, so sich mit der Zeit zugunsten des Schleideners auswörkte und es ward ein groß Gemurmel gehört im Volke; Grellspieß konnte den Anschuldigungen des Hyrt gegen die sattsamben Uebergriffe der Römer nichts entgegensetzen“. Hyrt hätte die Monschauer umzustimmen gewußt, wenn nicht die Behörden gegen ihn vorgegangen wären. Er sei dann am 12. August vor den hohen Stuhl geladen worden, habe sich aber derart gut zu verteidigen gewußt, daß er von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen „er sei gewillt gewesen den Aufruhren und der Zwyetracht in das Ländlein von Monschaw zu bringen“ freigesprochen wurde. Hyrt sei aber des Lands verwiesen und ihm bedeutet worden, „er solle sich wieder begeben, von dannen er kommen, in des Antichristen Höhlen, so der Herre Dietrich von Schleiden ist“. Sein mannhaftes Auftreten habe aber in Monschau einen tiefen Eindruck hinterlassen, so daß im Laufe der Jahre sich zahlreiche Monschauer Familien zum Protestantismus bekannten, und im Volksmund (?) seit der Zeit das Wort umging: „Der Hirt kömmpt in Lande – Rom zur Schande“.

Ist die Geschichte wirklich passiert, so ist die Frage nach der Einstellung des Schleidener Pfarrers zur protestantischen Reformation, die so viele Schriften und Gegenschriften gezeitigt hat, eindeutig gelöst, und für die geschichtliche Wirklichkeit setzt sich ja der Schreiber durch seine Berufung auf alte Eifeler Gerichtsakten ein, denen wohl die vielen wörtlichen Zitate in ihrer altertümelnden Sprache entlehnt sein sollen; fehlen ja auch Namen und genaues Datum nicht. Dennoch kam manchem die Sache etwas verdächtig vor, und wandte man sich verschiedentlich an die Redaktion der betreffenden Zeitung mit der Bitte um Angabe des Autors oder seiner Quellen, keiner erhielt jedoch Antwort. Somit wäre eigentlich die Geschichte für den ernsten Wissenschaftler erledigt gewesen und hätte man sie ruhig einem stillen Begräbnis in der Flut der Tagesliteratur überlassen können, wenn sie nicht neuerdings von Walter Scheibler ausgegraben und in seiner Geschichte der evangelischen Gemeinde Monschau, einem gewiß ernst zu nehmenden Werke, wieder vorgetragen worden wäre. Um der damit gegebenen Gefahr einer falschen Legendenbildung zu begegnen, erscheint es allerdings geboten, die romantische Erzählung von dem protestantischen Einritt ins Monschauer Land als das nachzuweisen, was sie wirklich ist, ein buntes Gemisch von Unwahrheit und Unwahrscheinlichkeit mit einem arg tendenziösen Anstrich.





Nach unserm Artikelschreiber ging es also im Jahre 1555 drunter und drüber im Eifeler Land, da der mächtige Schleidener Graf Dietrich V. (!) den Protestantismus auszubreiten suchte, wo und wie er nur konnte. Hier ist ihm aber gleich zu Anfang seiner Geschichte eine böse Verwechslung zugestoßen. Unter Dietrich VI. (1560–1593) ist es allerdings mancherorts drunter und drüber gegangen, als er gewaltsam das Luthertum in seiner weiten Herrschaft einzuführen versuchte. Da wurden die Katholiken mit Stockhieben in die Predigt der Prädikanten getrieben 4), da wurden in Niederehe die Mönche mit Drohungen und Quälereien gezwungen, die Augsburger Konfession anzunehmen oder das Kloster zu verlassen 5), da wanderten die Katholiken von Hallschlag aus nach Vianden, wo sie bis zum Tode Dietrichs VI. verblieben 6) usw. Aus der kurzen Regierungszeit Dietrichs V. (1551–1560) ist aber nichts dergleichen bekannt. Es will sich auch schwer reimen, daß der nämliche Dietrich von dem Monschauer Gericht als „der Antichrist“ bezeichnet wird, den der streng katholische Abt Jakob Panhausen von Steinfeld „meinen großgunstigen Nachparn“ dieser wiederum den Abt „meinen besondern lieben Freund“ nennt, die beide miteinander Freundschaftsbesuche und Gastgeschenke tauschen 7). „Mit guetten vurwissen und ziettigen bedencken des erenwirttigen Herrn Jacoben van Panhauß, apt des gotzhauß Steinfeldt als archidiakon“ regelt auch der Graf die Gehaltsbezüge des Pfarrers Hyrt. In der Urkunde vom 8. April 1556 8), die auf Ersuchen Dietrichs der Abt „zufurderst“ besiegelt, wird auch bestimmt: „Und es soll der Kirchendeinst durch den pastor und synnen capellain in massen wehe bisainher bescheen“. Daß damit aber der althergebrachte katholische Gottesdienst verstanden ist, geht aus dem Zusatz hervor: ..., oder in folgender zeit christlich aingestalt werden moigte. Mag mit diesem gänzlich unbestimmten Zusatz, den ja auch der Archidiakon mit unterschrieb, gemeint sein was immer, Tatsache ist, daß auch im Jahre 1556 in Schleiden trotz des den weltlichen Fürsten zuerkannten jus reformandi der katholische Kultus bestanden hat und weiter bestehen sollte. „Unter verpflichtung unserer gräflichen ehren und thrauwen“ gelobt und verspricht Dietrich „diesen breiff in allen seynen puncten vost, stheidt und unverbruchlich zu halten on alle geverde und arglist“. Was Graf Dietrich V. damals feierlich verbürgte, hat er zeitlebens gehalten. Dafür steht die Tatsache, daß in seinem Todesjahr bald nach dem Verscheiden – Dietrich der mittlere starb am 22. April 1560 plötzlich am Hochzeitstage seines Sohnes, des jüngeren Dietrichs – der Kölner Weihbischof Johannes Pennarius in Schleiden Sonntag nach Johannes Enthauptung (29. August) predigte und firmte 9). Die Pfarre war also damals in den ersten Monaten der Regierung Dietrich VI. noch katholisch; wenn aber dessen Vater in seiner eigenen Residenz nicht die protestantische Reform eingeführt hat, obwohl ihm das seit Augsburg 1555 unbenommen war, ist doch wohl nicht anzunehmen, daß er einen Versuch gemacht hätte, den Protestantismus mit bewaffneter Hand in eine fremdes Land zu tragen.

Und Hyrt selber, der die rechte Hand des Grafen bei diesem Versuche gewesen sein soll? Da ist es wiederum eine bedeutsame Tatsache, daß der angeblich „abgefallene Steinfelder Mönch“ just in demselben Jahre 1555 ein Glasgemälde mit dem Bilde seines Namenspatrons, des heiligen Servatius, in den Kreuzgang der Abtei gestiftet hat 10). Seinem Kloster hat er bis in sein hohes Alter Anhänglichkeit und Dankbarkeit bewiesen. In dem am 8. März 1567 ungefähr zwei Jahre vor seinem gegen Ende Januar 1569 erfolgten Tode verfaßten Testamente 11) bedenkt Hyrt das Kloster zum Ausgleich einer alten Schuld mit dem doppelten Betrage und verehrt dem Abte einen Rosennobel (die damalige höchstwertige Goldmünze, heute ca. 100 Mark), „mit demütiger Bitt, daß seine Würden mich in diesem meinem Vornehmen, den Armen zu helfen, fördern will“ dem Schutze desselben seine Armenstiftung empfehlend. Ja, wenn er außer dem Abte von Steinfeld, der gleichzeitig die Würde eines Archidiakons oder Generalvikars für die Pfarre Schleiden bekleidete, auch dem Hochwürdigsten Erzbischofen zu Köln, seinem „gnädigsten Herren“, einen Engelloten (ca. 60 Mark) mit der gleichen Bitte verehrt, auch die bei Testamenten der Geistlichen übliche Steuer für den Bau des Domes zu Köln entrichtet, so gewinnt man unbedingt den Eindruck, daß die Anerkennung der katholischen Hierarchie bei Lebzeiten Hyrts in Schleiden noch intakt gewesen ist. Das Gleiche wird man vom katholischen Kultus sagen müssen, wenn wir im Testamente lesen: „Ist mein letzter Wille, nach christlich wohlhergebrachtem Brauch zur Erden bestattet zu werden“; wie denn auch nach Ausweis der Hospitalsrechnungen die gestifteten Seelenämter erst nach dem Tode Hyrts verschwinden. Und wenn wir ferner bedenken, daß wieder Hyrt es gewesen ist, der die Nachricht von der bischöflichen Visitation uns in seinen Aufzeichnungen über die denkwürdigen Ereignisse seines Lebens hinterlassen hat, so scheint es nachgerade, daß diese in Anbetracht der bekannten Gesinnung des neuen Dynasten ein letzter Versuch des alten Pastor gewesen ist, seine Gemeinde im katholischen Glauben zu befestigen. Alles Momente, welche die Servatius Hyrt zugeschriebene Rolle eines Vorkämpfers des Protestantismus Lügen strafen. Erst sein Todesjahr 1569 mit der Bestallung Antons vom Hagen zum ersten lutherischen Pastor ist als Gründungsjahr der protestantischen Pfarrgemeinde anzusetzen 12).

Das möge genügen zur Beurteilung des Histörchens von dem Propagandaritt des „abgefallenen Steinfelder Mönchs“ ins Monschauer Land. Solange die „alten Eifeler Gerichtsakten“, denen es entnommen sein soll, nicht bekannt gegeben werden, muß die Geschichte wie sie erzählt ist, wegen des klaffenden Widerspruchs zu feststehenden Tatsachen als eine üble Geschichtsfälschung erkannt werden.

II.

Unbeschadet der vorhergehenden Feststellungen, deren Aufgabe es war, das schwierige Problem Servatius Hyrt vor einer neuen Belastung durch unkontrollierbare Erdichtungen zu schützen, verkenne ich keinesweg, daß es zu kompliziert ist, um es auf die einfache Formel: „katholisch oder lutherisch?“ zu bringen. Es bleibt die Tragweite des Verdiktes zu prüfen, das gerade von katholischer Seite gegen den „erasmianischen Wortklauber“ gefällt wurde, der „lehrte, was er nicht gelernt hatte und so verdienter Weise schließlich abirrte“ 13). Ich kann dasselbe noch durch andere Formulierungen ergänzen. In einem Briefe an den Abt von Steinfeld aus dem Jahre 1551, in welchem er sich u. a. für ein geliehenes Büchlein von einem Nikolaus Mameranus bedankt, und sich als „Vestrae Paternitatis minister Serv. Hyrtius, pastor Sleidanus“, unterzeichnet, hat ebenfalls eine spätere Hand, vermutlich ein Steinfelder Konventuale, der Unterschrift die Worte beigesetzt: „addas filius in Christo, etsi degener“ 14). Leider fehlt jeder Anhaltspunkt, aus welcher Zeit diese Randglossen stammen. Am klarsten ist jenes Verdikt formuliert in einer Aktennotiz des Abtes Johann Lückerath † 1680, in welcher derselbe zu dem Bericht, daß bei der katholischen Restauration durch den Grafen Ernst am Dreifaltigkeitssonntag 1623 ein Steinfelder Pater gepredigt habe, sagt: „So war es recht, daß die Orthodoxie dort durch ein Mitglied des nämlichen Ordens wieder ihren Anfang nahm, wo durch einen Apostaten desselben die Häresie gefördert worden war“ 15). Man könnte versucht sein, solche ein Jahrhundert nach den Ereignissen erhobenen Anschuldigungen aus einem gewissen Ressentiment gegen den letzten katholischen Pfarrer einer so bedeutenden Gemeinde zu erklären. Man kann aber auch den Vorwurf der Apostasie entsprechend dem kirchlichen Sprachgebrauch, welcher außer dem Abfall vom Glauben – apostasia a fide – noch eine apostasiaareligione d. i. einen Bruch der Ordensgelübde kennt, von dem Austritt aus dem Orden der Prämonstratenser, in welchen Servatius 1517 in seinem 18. Lebensjahre eingetreten, verstehen. Und das hat vieles für sich. Mit angesehenen Schleidener Familien versippt, war nach Absolvierung seiner Studien an der Kölner Universität, wo sich in der Matrikel der philosophischen Fakultät zum Jahre 1527 eingetragen findet Servatius Hirtzius Sleydamus, derselbe 1533 von seinem Abte Johannes Auwiler, von welchem er auch das Ordenskleid empfangen hatte, nach Schleiden als Hilfsgeistlicher gesandt worden. Als bereits im August des folgenden Jahres der Pastor Johannes Dörwiß daselbst starb, empfahl sich gleich in der Todesanzeige Hyrt seinem Prälaten als Nachfolger des Verstorbenen 16). Nach Allerheiligen scheint er denn auch ohne besondere rechtliche Förmlichkeiten die Verwaltung der Pfarre Schleiden angetreten zu haben. Eigentlicher Pfarrer mit dem Rechte der Ernennung und jederzeitigen Abberufung des amtierenden Geistlichen war ja der Abt selber. Das wurde anders, als im Jahre 1539 wohl auf Betreiben Hyrts Graf Dietrich IV. mit dem Abte Simon von Dipenbach den Vertrag schloß, durch den der Graf das Recht der Ernennung des Pfarrers zu Schleiden, der Abt das zu Erp erhielt, unbeschadet des Einführungsrecht in die Pfarre, welches der Abt als Archidiakon von Köln weiterhin behielt. So wurde denn Hyrt 1541 neuerdings vom Grafen zur Bestallung als rechter Pfarrer dem Abte vorgeschlagen und daraufhin dreimal in dessen Auftrag beim Gottesdienst in der Pfarrkirche angekündigt 17). Falls nun kein Widerspruch erfolgte, mußte nach kirchlicher Vorschrift die Einführung durch den Archidiakon stattfinden. Aus unbekannten Gründen zögerte der neue Abt Jakob Panhausen jedoch dieselbe hinaus. Dagegen erhob der Bewerber – er spricht von literae subdolae, betrügerischen Briefen – unter Berufung auf das Recht des Grafen Protest und erreichte auch am Freitag nach Egidiustag die Einsetzung als Schleidener Pfarrer im Beisein des gräflichen Rentmeisters Peter Monheim und eines Notars. Damit hatte Frater Servatius, ohne jedoch von seinem Ordensgelübde entbunden zu sein, eine von dem Abte nur mehr als Archidiakon abhängige Stellung erhalten.

In dem Vertrag Schleidens mit Steinfeld war für den neuen Pfarrer ein festes vom Grafen zu zahlendes Jahresgehalt von 100 Goldgulden vereinbart worden. Unter dem 20. Mai 1545 liegt nun eine merkwürdige, von einem späteren Registrator so bezeichnete „Beschwerungsschrift Servatii Hyrten seligen Pastors zur Schleiden wegen misbezahlung der one das geringer competenz, sonderlich weil die accidentalia (Stolgebühren) abnehmen“ gerichtet an den Grafen Dietrich vor 18). In derselben heißt es: „dys beschwere ich mich hoeglich, das ich dem eyne voer, deme andern na heischen, bedelen, naloeffen sall und doch nuyst krygen. Also kann ich neit haushalden und myne schuldener, by wilchen ich noetdorfft geholt haven bezalen“ Andererseits geht aus dem Testamente vom Jahre 1567 hervor, daß der nämliche, der vor zwanzig Jahren angeblich seine Schulden nicht bezahlen kann, ein ansehnliches Vermögen außer vielem Hausrat, Bücher und Kleinodien, silbernen Becher und goldenen mit Edelsteinen besetzten Ringen, Vieh und Wiesen mehr als zweitausend Reichstaler und eintausend Goldgulden an baren Geld und an Schuld-Briefen hinterläßt. Das verträgt sich nun allerdings mit der einst gelobten freiwilligen Armut nicht! Ob und inwieweit der Schleidener Pfarrer von seinen Ordensverpflichtungen entbunden wurde, muß dahingestellt bleiben. Für irgend welchen Erlaß spricht ja auch das aus den früheren Angaben erhellende andauernd gute Verhältnis zu seinem Kloster. So wie auch Erasmus, sein verehrtes Vorbild, durch päpstliche Dispens von seinen Ordensgelübden entbunden wurde 19).

Erasmus, „der der Kirche treu blieb, nachdem er ihr außerordentlich geschadet hatte20) – das scheint mir auch die Lösung des Problems Servatius Hyrt zu sein, natürlich gemessen mit dem Maßstab der Bedeutung der beiden Männer. In seinem Jugendwerk hat Frater Servatius sich als begeisterten Schüler des Erasmus bekannt; dieser ist ihm der erste Theologe des Jahrhunderts, den er in allem nachahmen möchte. Er hat es getan, indem er gleich ihm das Ordensgewand mit dem Kleid des Weltgeistlichen vertauscht hat. Gleich Erasmus, der erklärte: „Mich wird weder der Tod noch das Leben von der Gemeinschaft der katholischen Kirche, die ihr Lutheraner die päpstliche nennt, scheiden“, hat Servatius Hyrt bis zum Ende seines Lebens an der katholischen Hierarchie und am katholischen Kultus festgehalten. Wir haben auch keinen Grund zu der Annahme, daß er von der entschiedenen Ablehnung des Luthertums, die er so unzweideutig in der Vorrede zu seinen Evangelischen Lesungen zum Ausdruck gebracht hat, in seinem späteren Leben abgewichen sei, da er noch denselben bis 1560 biographische Notizen angefügt, sonst jedoch keine Aenderungen vorgenommen oder Zusätze gemacht hat. Auch in dem Eingangssatz seines Testamentes, in dem Dr. Siebel die lutherische Rechtfertigungslehre „durchblicken“ sieht, vermag ich nichts zu entdecken, was nicht jeder katholische Christ sagen könnte.

Andererseits bleibt jedoch auch wahr, daß Hyrt der katholischen Sache nicht wenig geschadet hat. Und zwar gerade wie Erasmus „durch Ausweichen vor klaren Entscheidungen und wesentlichen Bindungen“. Müller glaubt diese erasmianische Unbestimmtheit gegenüber strittigen Glaubensfragen auch in dem Predigtwerk von Hyrt zu finden, das er selbst noch in Händen gehabt hat; leider läßt sich dies nicht genügend nachprüfen, da das Manuskript seitdem verschollen ist (!). Jedenfalls hat aber der Schleidener Pfarrer den von Erasmus empfohlenen „Mittelkurs“ praktisch befolgt. „Nach wohlhergebrachtem christlichen Brauch“ wollte er zur Erde bestattet werden, wie er selber 1551 seinen Grafen mit Messen und Vigilien unter Assistenz hoher kirchlicher Würdenträger beerdigt hatte 21). Nichts findet man aber in seinem Testamente von der Stiftung einer Jahrmesse 22), wie es ebenfalls wohlhergebrachter christlicher Brauch war, und er selber in Uebereinstimmung mit einer Anordnung Dietrich IV. die früher gestifteten bis zu seinem Lebensende gehalten hat. Ueber die Preisgabe übernommener bindender Verpflichtungen wurde oben eingehend gehandelt. Am meisten hat er aber der Kirche geschadet dadurch, daß er, freilich erst in den allerletzten Lebensjahren sich einen lutherischen Kaplan und Prädikanten hat gefallen lassen. Denn an der protestantischen Einstellung von Matthias Stadtfeld kann nach den Angaben Müllers wohl nicht mehr gezweifelt werden. Allerdings sind schon früh dessen Nachkommen zur katholischen Kirche zurückgekehrt 23).

Auch vom Standpunkt der unter Dietrich VI. von Schleiden hart bedrängten katholischen Kirche aus gilt über Servatius Hyrt das Wort Luthers über Erasmus: „er hat die Ruhe mehr geliebt wie das Kreuz“. Der letzte katholische Pfarrer von Schleiden zur Reformationszeit ist nicht vom Geiste jener apostolischen Männer aus seinem Kloster gewesen, die die Eifel die christliche Glaubenseinheit gewahrt haben; darum hat der edle und eifrige Abt Lückerath von Steinfeld 24) ihn nicht unverdienterweise einen Abtrünnigen seines Ordens gleich erachtet.






Anmerkungen

  1. In welch traurige Lage die von Dietrich VI. den katholischen Landpfarreien aufgenötigten lutherischen Pfarrer alsbald nach dessen Tod gerieten, zeigt die Notiz aus den Hospitalakten im katholischen Pfarrarchiv Schleiden vom Jahre 1595: „Herrn Reiner, als er von Udenbreth zog mit Weib und Kinder und hat zwei Fuhrmänner bei sich, gelassen aus Befehl des Rentmeisters einen Karreneiser, neun Paar Schuhe, noch ein Pfund Speck“; und wiederum: „item haben wir getan Herrn Reiner zur Steuer seiner Armut sieben Gulden.“ Ebenso Rechnung 1593: „Herrn Mattheisen, Prediger zu Ormond aus dem Spital gegeben vier Gulden“, und nochmals: „Pastor zu Ormonden zu Steuer in seiner Armut aus Befehl des Spitalsverwalter 11 Taler.“

  2. Doch keineswegs alle. Es fällt auf, daß der erste Beamte der Stadt, der Vogt Michael Naas, der Schwager Sleidans, 1580 das vom Vater ererbte Amt niederlegt und nach Heimbach auswandert, wo seine Nachkommen katholisch sind. Vgl. meine Veröffentlichung in den Mitteilungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde VII, Spalte 451. Auch scheint schon früh ein katholischer Zweig der Pönsgen nach Heimbach verschlagen worden zu sein. S. Kelleter, Familiengeschichte Pönsgen S. 54. Im allgemeinen ist zu sagen, daß nur sehr dürftige Nachrichten über die religiösen Neuerungen unter Dietrich VI. auf uns gekommen sind. Bereits 1664 ist der Verdacht laut geworden, daß die katholischen Belange im Schleidener Archiv von den protestantischen Registratoren unterdrückt worden seien. Hierüber siehe meine Ausführungen in den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 135, S. 83. Daher auch die vielfach einseitige Darstellung der Schleidener Reformationsgeschichte.

  3. Ennen, Geschichte der Reformation im Erzstift Köln, S. 214 – Reformation in der Grafschaft Mörs: „Wo ein Pfarrer der katholischen Kirche treu bleiben wollte, da wurde diesem ein reformierter Kaplan zugegeben. Unter gräflichem Schutze reformierte ein solcher Kaplan dann die Gemeinde nach der gräflichen Kirchenordnung, ohne daß der katholische eigentliche Pfarrer das Geringste dagegen tun konnte.“

  4. Nach den Annalen der Franziskaner-Provinziale von Fr. Bürvenich 1663 im Kölner Stadtarchiv, Geistl. Sachen Nr. 199, Conventus Sleidanus S. 475.

  5. Schorn, Eiflia sacra, II, 271: „menacibus tortoribus et suasilibus verbis generose repugnarunt“.

  6. Bärsch, Eiflia illustrata, III. 3, 253.

  7. S. die von mir veröffentlichten neuen Dokumente zur Geschichte Dietrichs IV. in Annalen des des Historischen Vereins 135, S. 92 f.

  8. Staatsarchiv Düsseldorf, Kloster Steinfeld Akten B 131, 43.

  9. Annalen des H. V. 3, S. 118.

  10. Trierisches Archiv, XVI. S. 88.

  11. Nach einer beglaubigten Abschrift des verschollenen Originals abgedruckt bei Peters, Geschichte der katholischen Pfarrei Schleiden: 1914 Selbstverlag. Die angezogene Stelle S. 63 ist jedoch nicht nur von Peters, wie J. O. Müller in den Monatsheften für Rhein. Kirchengeschichte 10 Jgg. (1916) S. 168 meint, sondern auch von Müller selber falsch gelesen, d. i. gedeutet worden. Es ist an derselben überhaupt nicht die Rede von einem Jahrgedächtnis. „Gottseligen Gedächtnis“ ist der übliche Zusatz bei Nennung eines Verstorbenen (piae memoriae). Es muß allerdings lauten: „meine(r) Mutter“. Auch sonst haben sich manche Fehler in den Druck oder die Abschrift eingeschlichen. S. 61 unten nicht Maaß sondern Naaß; S. 65 oben nicht Nichtgen sondern Nietgen (Agnes); S. 64 unten Beiß (?), Ingedoen (?) = Eigentum.

  12. So richtig Peters, a. a. O., S. 12. – Daß selbst nach dem Tode des Pastors Hyrt die kirchliche Lage in Schleiden noch nicht geklärt war, geht aus der Antwort des Steinfelder Stiftsherren Peter Mockel aus der angesehenen Schleidener Familie, der auch der im Testamente Hyrts erwähnte Schwager desselben, Tilman Mockel entstammte, hervor, die dieser Abt Panhausen auf dessen Anfrage, ob er bereit wäre, gegebenenfalls die Pfarre Schleiden zu übernehmen, gab. Mockel schreibt in Eile – raptim juvene nimirum abituriente – aber in einem klassischen Latein, daß er bereit wäre an diese ehrenvolle Aufgabe Gut und Leben zu setzen, wenn nicht die Last des Alters und körperliche Beschwerden ihn dazu unfähig machten. Er beschwört aber den Abt, nichts zu unterlassen, um eine solche Pfarre Christus wieder zu gewinnen. „Aber wer kann sicher sagen“, so schließt der Brief, „ob der Graf einen von uns, – d. h. einen Klostergeistlichen – zu berufen gedenkt, oder jemand der in allen Stücken von dieser argen Welt ist!“

  13. J. O. Müller, Aus den Eifelbergen, Langenberg 1887, S. 41.

  14. St.-Arch. Düsseldorf, Kloster Steinfeld. Akten B 131, Bl. 11.

  15. Kathol. Pfarrarchiv Schleiden.

  16. St.-Arch. Düsseldorf, a. a. O., S. 10.

  17. Ebenda, S. 103 und 104.

  18. Kathol. Pfarrarchiv Schleiden.

  19. Ueber die jedenfalls fortdauernde Verpflichtung zum priesterlichen Zölibat läßt sich bei Hyrt nur vermutungsweise etwas sagen. Er hat nämlich selber einem gewissen Verdacht Raum gegeben durch die sehr auffällige Einbeziehung folgender Angabe in seine wichtigsten Lebensdaten: „1543, am Tage nach Andreas, erhielt ich (accepi) Eva; sie starb bei mir Antoniustag 1561.“ So ist nämlich der in den Annalen des Historischen Vereins a. a. O. von Prof. Braun entstellt wiedergegebene und ganz mißverstandene Satz nach einer Abschrift im Liber pastorum S. 252, Pfarrarchiv Steinfeld, zu lesen. Es ist die Eva von Monsjoy, von der im Testamente Hyrts gesagt wird, daß sie eine Zeitlang von Jahren bei ihm gewesen sei, und der er vermöge ihrer Handschrift, also noch zu ihren Lebzeiten seinen ganzen Hausrath: Düppen, Kannen, Pannen, Kessel, Bettpolen und Kissen und was weiters zu finden, übertragen habe – das soll jetzt deren Erben zugestellt werden. Sie muß, wie gesagt, eine ganz besondere Bedeutung für Hyrt gehabt haben, da sie als einzige Privatperson unter den amtlichen Angaben und in der Reihe der Standespersonen erscheint, zu denen der Pfarrer in Beziehung getreten ist. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß es sich um eine vielleicht geheime, jedenfalls aber illegitime Verbindung gehandelt hat, ähnlich wie der katholische Herzog von Jülich damals die Vermählung seines Hofpredigers zugab. Es würde das freilich ein krasser Widerspruch zu der scharfen Verurteilung der lutherischen Reformatoren von seiten Hyrts im Jahre 1527 sein, deren Leben der lautern Heiligkeit der alten Kirchenväter gerade entgegengesetzt sei, würde allerdings auch den Vorwurf des Abfalls von den Ordensgelübden gegen Hyrt selber vollverständlich machen.

  20. So J. Huizinga, Erasmus, Deutsch von Werner Kaegi, Basel 1928, nach J. Lortz, die Reformation in Deutschland, Freiburg i. Br. 1940, I, S. 127 ff.

  21. Siehe meinen Bericht über das Leichenbegängnis Dietrichs IV. 1551 in den Annalen des Historischen Vereins 125, S. 111.

  22. Johannes Becker, der sich in seiner Geschichte des Dekanates Blankenheim, Köln 1893, S. 81 eingehend mit der Reformation in Schleiden befaßt, fragt allerdings mit Grund: „War es überhaupt unter Dietrich VI. erlaubt, Seelenmessen zu stiften?“ Und wenn Hyrt es beabsichtigte, welche Gewähr hatte er für die Handhabung seiner Stiftung?

  23. In den Lehnsakten der Jülichschen Lehnshöfe Sötenich und Keldenich im Düsseldorfer Staatsarchiv wird der 1623 mit Gertrud Hellendal, einer Enkelin von Balthasar Günther gnt. Keldenich, verheiratete Schleidener Vogt Franz Wilhelm Stadtfeld genannt, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Sohn des Prädikanten. Nach Ausweis der Matrikel der katholischen Pfarrgemeinde Keldenich hat derselbe kurz vor seinem im Jahre 1661 in Sötenich erfolgten Tode seine Söhne Hans Heinrich, Jakob, Franz Wilhelm 1659 von dem Kölner Weihbischof firmen lassen. Firmpate war ein Hans Peter Stadtfeldt aus Schleiden. Gertrud Hellendal starb im hohen Alter 1680 zu Sötenich versehen mit den Sterbesakramenten der katholischen Kirche.

  24. Ueber diesen ausgezeichneten Prälaten und die Bedeutung Steinfelds für die Reformationsgeschichte der Eifel siehe meine Biografie Johann VII. Luckenrath, Abt von Steinfeld, 1661–1680, erschienen 1941 im Volksblatt-Verlag Euskirchen.





Selbstverlag des Verfassers, Druck: Volksblatt Verlag Euskirchen, ohne Jahresangabe [ab 1941].


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